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Wegrennen statt Meditieren

  • Autorenbild: rollinwal
    rollinwal
  • 12. Nov.
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 14. Nov.

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Was in Körper und Geist geschieht, wenn Stille unerträglich wird

Viele Menschen erleben beim Zazen oder in stiller Meditation plötzlich das Gegenteil von Ruhe: Unruhe, Spannung und den Drang, aufzustehen. Dieses Phänomen ist kein Zeichen des Scheiterns, sondern Ausdruck eines tiefen körperlichen und psychischen Prozesses. Wer versteht, was dabei geschieht, kann lernen, in diesem Moment zu bleiben – und darin die eigentliche Übung zu erkennen.


1. Der Körper reagiert auf Stille

Wenn du dich zum Zazen hinsetzt, beginnt dein Körper, von Aktivität auf Ruhe umzuschalten. Im Alltag dominiert der Sympathikus, der Teil des Nervensystems, der Bewegung, Wachheit und Reaktion steuert. Sobald du still wirst, soll der Parasympathikus übernehmen – zuständig für Entspannung und Regeneration.

Doch diese Umschaltung ist nicht automatisch angenehm. Das Nervensystem interpretiert plötzliche Stille zunächst als Unsicherheit, weil gewohnte Reize fehlen. Anstatt sich sofort zu beruhigen, erzeugt der Körper Spannung, um Kontrolle zurückzugewinnen.

Der Drang aufzustehen ist daher keine Schwäche, sondern eine biologische Schutzreaktion. Dein Organismus versucht, dich aus einem Zustand herauszuführen, den er noch nicht kennt.


2. Der psychologische Widerstand

Zazen konfrontiert uns nicht nur mit Stille, sondern mit dem, was in ihr auftaucht, sobald nichts mehr ablenkt. Unter der Oberfläche unseres Alltags liegen viele Schichten: Gedanken, Spannungen, Gefühle, oft alt und unbemerkt. Wenn diese sich zeigen, reagiert die Psyche mit Abwehr – sie will schützen, was sich bisher sicher anfühlte.


Selbstschutz durch Aktivität

Im Alltag halten wir unser inneres Gleichgewicht durch Tun: arbeiten, planen, reden, konsumieren, denken. Aktivität erzeugt Kontrolle und Stabilität. In der Meditation fällt diese äußere Stütze weg. Der gewohnte Mechanismus – Reiz und Reaktion – bricht zusammen.

Das Nervensystem greift dann auf früh gelernte Schutzstrategien zurück. Sie zeigen sich als körperliche Anspannung, Ungeduld, Müdigkeit oder als plötzliche Gedanken wie: „Ich sollte lieber etwas anderes tun.“ Diese Impulse sind keine Störung, sondern Versuche, Sicherheit wiederherzustellen.


Der Fluchtimpuls als Schutz

Der Drang aufzustehen ist also Ausdruck eines inneren Selbstschutzes. Etwas in dir spürt, dass Stille Kontakt mit Empfindungen herstellt, die bisher verdrängt oder nicht gefühlt wurden – Angst, Leere, Traurigkeit, Überforderung. Statt sie zuzulassen, will das System handeln: weglaufen, nachdenken, sich bewegen.

Wenn du in diesem Moment bleibst, beginnst du zu sehen, was sonst unbewusst wirkt. Der Widerstand selbst wird dann zum Übungsfeld – er zeigt, wie dein Geist sich schützt, und ermöglicht, diese Struktur zu erkennen, ohne sie zu verurteilen.


Das Paradox der Stille

Viele Menschen erwarten, dass Meditation sofort Ruhe bringt. Tatsächlich führt sie zunächst in die Begegnung mit Unruhe. Erst wenn diese Unruhe nicht mehr abgewehrt wird, entsteht etwas Tieferes: eine stille Wahrnehmung, in der alles, was auftaucht, Raum haben darf.

Psychologisch gesehen ist das kein Rückzug, sondern Integration. Das, was bisher getrennt war, darf sich zeigen. Der Widerstand wird verstanden, nicht bekämpft – und verliert dadurch seine Kraft.


3. Die existenzielle Dimension

Zazen berührt nicht nur Körper und Psyche, sondern auch das Gefühl, eine feste Person zu sein. Im Alltag wird dieses Ich ständig durch Aktivität gestützt: durch Rollen, Aufgaben, Ziele, Sprache. Wenn du still sitzt, fällt diese äußere Struktur plötzlich weg.


Der Verlust des Gewohnten

In völliger Stille gibt es nichts, woran sich das Ich festhalten kann. Kein Tun, kein Denken, keine Geschichte, kein Gegenüber. Das, was sonst „ich“ sagt, verliert seine gewohnte Form. Dieses Erleben wird oft unbewusst als Verlust an Kontrolle empfunden. Die Psyche interpretiert es als Bedrohung, obwohl tatsächlich nichts Gefährliches geschieht.

Der Fluchtimpuls ist in diesem Moment eine Reaktion auf den drohenden Zusammenbruch der gewohnten Identität. Etwas in dir will sofort „zurück ins Bekannte“ – in Aktivität, Bewegung, Gedanken. Das ist die instinktive Reaktion des Egos auf das Erleben von Grenzenlosigkeit.


Angst vor Leere

Was sich in tiefer Meditation wie Leere anfühlt, ist oft einfach das Fehlen gewohnter Bezugspunkte. Diese Leere ist nicht negativ – sie ist nur ungewohnt. Wenn der Geist darin bleibt, beginnt er zu erkennen, dass sie nicht leer im Sinn von „nichts“, sondern leer im Sinn von frei ist.

Doch bevor diese Erfahrung möglich wird, taucht häufig Angst auf – die Angst, zu verschwinden. Der Körper will sich bewegen, um das Gefühl des „Ich bin jemand“ wieder herzustellen.


Die Schwelle

Wenn du diesen Punkt erreichst, ist das kein Scheitern der Praxis, sondern ein Zeichen, dass sie wirkt. Meditation beginnt dort, wo der gewohnte Halt verschwindet. Die Kunst besteht darin, diesen Moment zu erkennen, ohne ihn zu dramatisieren. Nichts löst sich wirklich auf – nur die Vorstellung von Kontrolle.

In dieser Offenheit entsteht etwas Neues: eine Wahrnehmung, die nicht mehr auf Tun oder Denken angewiesen ist. Das ist keine besondere Erfahrung, sondern eine Rückkehr in das, was immer da war – nur ohne das Bedürfnis, es festzuhalten.


4. Praktische Wege im Umgang mit dem Widerstand

Wahrnehmen statt reagieren

Wenn der Impuls aufzustehen auftaucht, nimm ihn bewusst wahr. Spüre, wo im Körper sich die Spannung zeigt. Lass den Atem dorthin gehen. Du musst nichts verändern – nur anwesend bleiben.


Bewegung vor dem Sitzen

Ein paar Minuten Gehen, Dehnen oder ruhiges Atmen vor dem Zazen helfen dem Nervensystem, die Aktivität zu regulieren. Dann fällt der Übergang in die Stille leichter.


Mit der Unruhe sitzen

Versuche nicht, ruhig zu werden. Lass die Unruhe Teil der Meditation sein. Zazen bedeutet, alles einzuschließen, was gerade geschieht – auch Widerstand. Wenn du lernst, damit zu sitzen, verändert sich dein Verhältnis zur Stille.


Kürzere Zeiten

Beginne mit fünf bis zehn Minuten. Es geht nicht um Dauer, sondern um Aufmerksamkeit. Das Nervensystem gewöhnt sich langsam an den neuen Zustand, und der Fluchtimpuls verliert an Intensität.


Nachspüren statt bewerten

Nach dem Sitzen lohnt es sich, kurz innezuhalten: „Was war da eigentlich los?“ oder „Was wollte ich nicht fühlen?“ Die Antwort muss nicht sofort kommen. Sie zeigt sich mit der Zeit – durch Übung, nicht durch Analyse.


5. Eine einfache Struktur für die ersten Minuten Zazen

Vorbereitung (1–2 Minuten)

Setze dich stabil, aber entspannt. Spüre dein Gewicht auf dem Kissen oder Stuhl. Atme drei Mal ruhig und sag dir: „Ich bin hier.“


Körper spüren (2 Minuten)

Wandere mit der Aufmerksamkeit durch den Körper. Nimm Druck, Wärme, Spannung oder Leere wahr – ohne etwas zu verändern.


Atem beobachten (3–5 Minuten)

Spüre den natürlichen Atemfluss. Wenn Gedanken kommen, bemerke sie und kehre zum Atem zurück.


Abschluss (1 Minute)

Bevor du aufstehst, bleib noch einen Moment still sitzen. Spüre, wie sich der Körper jetzt anfühlt, und bewege dich langsam zurück in den Alltag.


6. Der Widerstand als Tor zur Tiefe

Zazen ist keine Methode, um Ruhe zu erzeugen. Es ist eine Praxis, mit dem zu sitzen, was da ist – auch mit Unruhe, Müdigkeit, Ärger oder Angst.

Der Drang zu fliehen ist kein Fehler. Er zeigt, dass du an der Grenze zwischen Gewohnheit und Gegenwart stehst. Wenn du lernst, in diesem Moment zu bleiben, ohne zu reagieren, beginnt wahre Stille – nicht als Zustand, sondern als Raum, in dem alles geschehen darf.


Warum es sich lohnt, trotz des Fluchtreflexes sitzen zu bleiben

Still sitzen zu bleiben, wenn alles in einem gehen will, ist mehr als Geduld – es ist eine Schulung des Bewusstseins. In diesem Moment lernst du, nicht automatisch auf innere Impulse zu reagieren. Das Nervensystem beginnt zu verstehen, dass Unruhe nichts Bedrohliches ist. Dadurch entsteht eine neue Form von innerer Stabilität, die nicht von äußeren Bedingungen abhängt.

Wenn du bleibst, statt dem Fluchtimpuls zu folgen, geschieht etwas Entscheidendes:Der Körper begreift, dass er nicht handeln muss, um sicher zu sein. Der Geist lernt, Empfindungen und Gedanken kommen und gehen zu lassen, ohne sie zu unterdrücken. Mit der Zeit führt das zu einer spürbaren Veränderung – weniger Getriebenheit, mehr Klarheit, mehr Vertrauen in die eigene Fähigkeit, einfach da zu sein.

Das Sitzen wird so zu einer praktischen Schulung von Gelassenheit und Präsenz. Was im Zazen geübt wird, überträgt sich auf den Alltag: In Momenten von Stress, Ärger oder Unsicherheit bleibt mehr Raum, bevor man reagiert.

Sitzen zu bleiben heißt nicht, die Unruhe zu besiegen, sondern sie zu verstehen. In dem Maß, in dem du lernst, in der Unruhe still zu sein, verwandelt sie sich – aus Spannung wird Wachheit, aus Flucht Energie, aus Widerstand Ruhe.


Wal


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